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Als ich 1996 zum ersten Mal nach der Wende in den Osten fuhr, um mir die Neuen Messe Leipzig anzusehen, hatte ich ein bisschen Angst vor den Veränderungen und war von widersprüchlichen Gefühlen bewegt.

Natürlich war ich froh, dass die Mauer gefallen war, und damit die stundenlangen Schikanen an der Grenze, die Ängste beim Passieren der Demarkationslinie mit ihren Wachttürmen und den Soldaten, die mit Hunden patrouillierten.

Aber schon am Bahnhof merkte ich: Von der „guten alten DDR“ ist wenig übrig und damit fehlte auch Vieles, das ich liebte. Die Zukunft hatte begonnen in Leipzig, aber um welchen Preis? Die Baustelle des alten Leipziger Bahnhofs schien mir wie eine gigantische Wunde, die vielleicht nie mehr heilen wird. Der Taxifahrer, der mich zur Messe fuhr, beklagte, dass das ganze Geld vom Westen nur in Renommierprojekte fließt, die die Wirtschaft ankurbeln sollen. Und tatsächlich trat die Messe recht großspurig und „global“ auf, z. B. mit Kunstwerken international renommierter Künstlerinnen und Künstler. Auch die schönen alten Leipziger Messehäuser in der Innenstadt führten mit ihren schicken neuen Läden und Cafés weltstädtisches Flair vor. Die Warenwelt und die Werbung hatten Einzug gehalten im alten Leipzig, die Menschen waren geschäftiger und die Automarken teurer geworden. Westliche Investoren hatten sich die attraktiven Filetstücke der Stadt gesichert.

Vieles habe ich vermisst vom alten Leipzig, oft ganz kleine, unbedeutende Dinge, z. B. :

Die relative Dunkelheit nachts in der Stadt (die Straßenbeleuchtung war früher reduzierter und nur an Gefahrenstellen wie Kreuzungen heller).

Die idyllischen Nischen im Stadtbild, die mir wie Relikte aus einem alten Deutschland vor hundert Jahren zu stammen schienen.

Die kleinen Läden mit dem überschaubaren Warenangebot (ist es nicht grässlich, sich zwischen 100 Haarshampoos entscheiden zu müssen?)

Die herzlichen und offenen Gespräche zwischen „West“ und „Ost“, die einem den Blick schärften für die Vor- und Nachteile des jeweiligen Systems.

Die beschauliche Langsamkeit (Leipzig schien „schneller“ geworden seit meinem Besuch vor der Wende).

Ich hatte den Eindruck, die „Konserve DDR“ sei nun geöffnet und zum Verbrauch freigegeben und das schmerzte irgendwie.

Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, dass ich im Westen häufig den Verlust von Vergangenheit spüre, da sie vom Krieg und insbesondere vom Wiederaufbau fast spurlos getilgt wurde. Vieles, was uns heute im Westen „historisch“ erscheint, wurde ja in Wirklichkeit neu aufgebaut. In der DDR war die Historie – so es sie denn gab – einfach noch authentischer erhalten.


"Mein erster Tag auf der anderen Seite"
(Umfrageergebnisse, München/Denning, Sommer 2005)

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