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Ich selbst war 1986, das erste Mal in Ostberlin. Das war für mich damals ungeheuer spannend (ich war elf), wirklich wie die Reise in ein ganz fremdes Land, über das man abenteuerliche Geschichten erzählen gehört hatte. Die Unternehmung hatte Expeditionscharakter. Unsere Westmark, die wir dort günstig einzutauschen vorhatten, schoben wir uns in die Socken, unter die Fußsohlen. Es war dann aber auch nicht gar so spannend und gefährlich, nur etwas seltsam, unbunter, nüchterner, eckiger. Die Stechschritte der Soldaten. Im Restaurant des rot glänzenden Palastes der Republik mussten wir Schlange stehen. Aber alles war so günstig.

Im Oktober 1989 fuhren wir (einige aus einer Jugendgruppe) mit einem VW Bus ins gerade in Bewegung geratene Grenzland, in die Gegend von Sonneberg. Direkt am von Posten verlassenen Grenzzaun zelteten wir und benützten die Plastikstangen, an denen Meldedrähte gespannt waren, kurzerhand als Zeltstecken. Grenztürme, Schlagbäume, Grenzschilder gaben eine schaurig-schöne Kulisse ab, und wer wusste, vielleicht waren ja noch Grenzer unterwegs. Ich bin auch, als dünnster, unter einem Tor durchgerobbt, auf die andere Seite. Da standen die anderen auf einmal hinter dem Grenzzaun.

Tags drauf fuhren wir "rüber", ich weiß nicht mehr genau, wo, vielleicht Erfurt. Wir ratterten über Kopfsteinpflaster und wunderten uns über blinde Scheiben, abgeblätterten Putz und grau-braune Fassaden, den Geruch von Kohle über allem. Ja, vielleicht war es die Farblosigkeit, die uns das Gefühl gab, in alte Schwarzweiß-Filme eingetaucht zu sein und eine Zeitreise, 30-40 Jahre in die Vergangenheit zu machen; zumindest stellten wir uns so "unsere" Vergangenheit vor.

1992 radelten wir durch Mecklenburg-Vorpommern. In Erinnerung ist mir die Vielfalt der Straßen: Kilometerlange Alleen, Landstraßen aus Betonplatten mit den charakteristischen Querfugen, die aus der Hitlerzeit stammen sollten, Rollsplitt, Sandpisten, Katzenbuckelpflaster. Dort sah ich auch reetgedeckte Häuser, auf denen in seltsamen Kontrast die ersten Satellitenschüsseln wie überdimensionale Pilze wuchsen. Imbisscontainer und Videotheken zeugten ebenfalls von raschem Wachstum. Die Aura des Verfalls faszinierte uns auf einem ehemaligen Gutshof, ein Herrenhaus, von dem nur noch die Fassaden standen, innen war alles eingestürzt, umgeben von maroden Ställen, auf deren Türen Plaketten mit rot durchgestrichenen Menschen angebracht waren. Ein Barockschlösschen mit abgeblätterten Fresken.

Dann gab es viele andere Begegnungen; zum Beispiel befreundete ich mich mit einem Original-Thüringer, der noch aus ihrer Pionierzeit erzählen konnte. Er zeigte mir seine Geschichtsbücher aus der Schule. Staunen und immer wieder meine Frage: Hat man denn das alles wirklich geglaubt? Dann ein Wochenende in Leipzig mit waschechter Plattenbausiedlung und Wessi-Witzen, die zu denken geben: "warum dauert die Schule im Westen ein Jahr länger- na, plus ein Jahr Schauspielunterricht".

Da gäbe es noch vieles- aber hier soll erstmal Schluß sein. Ich war gerade in Schreiblaune.


"Mein erster Tag auf der anderen Seite"
(Umfrageergebnisse, München/Denning, Sommer 2005)

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