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Der Abschlussjahrgang meiner Realschule fuhr traditionellerweise jedes Jahr nach Berlin. Ich weiß noch, wie wir Schüler versucht haben, ein anderes Reiseziel vorzuschlagen. Wir erreichten, dass der Direktor kam und uns nach einer kurzen Diskussion vor die Wahl stellte: entweder Berlin oder gar keine Reise.

Zur Begründung sagte er, dass es für Klassenfahrten nach Berlin eine staatliche Unterstützung gab. Und dann kam noch so ein konservativer Spruch wie: Die Welt kennt ihr wie eure Westentasche, Deutschland aber nicht. Später ist mir klar geworden, was der wahre Grund gewesen ist. Berlin als Reiseziel entsprach dem politischen Bildungsauftrag, den Gedanken der deutschen Einheit, der als Leitsatz im Grundgesetz stand, zu verdeutlichen.

Kleinlaut gaben wir bei. Das Warum wurde nie ausgesprochen, und Berlin war, wie gesagt, nicht gerade unser Traumziel. Die Berichte, die man ab und zu im Fernsehen zu sehen bekam, hatten immer etwas Düsteres: Reportagen über Menschen, die aus der DDR geflüchtet waren oder über Schikanen an der Grenze. All dies lag wie ein grauer Schleier über der Stadt.

Und dann kam der Tag, an dem wir den Bildungsauftrag unserer Schule zu erfüllen hatten. Es war im Winter 87\88 – ein Jahr später war das, was wir gesehen hatten, schon Vergangenheit...

Den ersten Eindruck vom Osten bekam ich beim Überqueren der Grenze mit der U-Bahn. Ich kann mich an den Ablauf und die Details nicht mehr erinnern. Nur an die alte Bahn und an die Stimmung, die etwas unterkühlt war. Wir fuhren ohne anzuhalten an menschenleeren U-Bahnstationen vorbei. Verloren sahen wir uns um. Ich fragte mich, wo fängt hier der Osten an? Offenbar hatte man aus Sicherheitsgründen, um die Bürger des Ostens vor uns zu schützen, die U-Bahnstationen zu Kulissen kalter Leere umfunktioniert. Was für ein Empfang. Es sollte uns sagen: Hier ist eine Grenze.

Später, nach dem obligatorischen Museumsbesuch, durften wir in kleinen Gruppen in Geschäften rund um den Alexanderplatz bummeln gehen.

Ich sollte einem Bekannten eine Rosa-Luxemburg-Biografie besorgen.

Die Einkaufsstraßen waren grau und leer. Unvergesslich: Der Hütchenspieler, der einsam an einer Ecke der Fußgängerzone stand und versuchte uns zu animieren, unser Geld aufs Spiel zu setzen. Denn außer uns war kein Publikum da. Das war der erste Hütchenspieler, den ich je gesehen hatte. Ausgerechnet! Bis heute kann ich nicht verstehen, wie dieser Mann an diese menschenleere Ecke im Osten gelangt war.

"Mein erster Tag auf der anderen Seite"
(Umfrageergebnisse, München/Denning, Sommer 2005)

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